Der Erste Weltkrieg ist ein für die internationale Öffentlichkeit wohlbekanntes historisches Ereignis, in dessen Rahmen sich Ende 1915 im Osmanischen Reich ein Völkermord ereignete, welcher auf die christlichen Minderheiten abzielte. Mein Heimatdorf Cimencik im Distrikt Eruh ist einer jener Orte, an dem sich die unglückseligen Vorgängen ereigneten. Ich habe verschiedene Aspekte der damaligen Vorgänge selbst untersucht. Die Ereignisse dieser Zeit sind in der Türkei über einen Zeitraum von 93 Jahren hinweg nicht nur verfälscht und verleugnet, sondern auch vollkommen tabuisiert worden. Ich habe mich nicht allein auf das verlassen, was Historiker dokumentiert und veröffentlicht haben; Ich habe mir persönlich die Berichte von Augenzeugen angehört, welche den tragischen Völkermord nicht nur bezeugt haben, sondern selbst am Töten teilgenommen haben und daher als Schuldige des Massenmordes bezeichnet werden müssen. Ich habe solche Menschen kurz vor deren Tode unter vier Augen getroffen und mir ihre Geschichten angehört. Während der Jahre des Völkermordes wurde assyrischer Landbesitz in meinem Dorf konfisziert, die wenigen Überlebenden wurden zum Islam konvertiert. Enkelkinder dieser islamisierten Überlebenden wohnen noch heute in meinem Heimatdorf.
Ich erfuhr auch, dass das Landgut, welches Ich und meine Geschwister von unserem Vater geerbt hatten, ursprünglich Assyrern gehörte, welche 1915 massakriert wurden. Es gehörte uns nicht. Mit Worten lassen sich meine Scham- und Schuldgefühle, sowie das schlechtes Gewissen, mit dem Ich seither lebte, nicht beschreiben. Bevor Ich mich dann entschloss, dieses Eigentum zurückzugeben, vergingen Jahre des Überlegens und des Versuches, mich in das Leben und die Situation der Völkermordsopfer zu versetzen. Obwohl Ich seither viele Assyrer und Armenier in der persönlichen Begegnung um Vergebung gebeten habe, konnte Ich mein schlechtes Gewissen, das Erbe meiner Vorväter, nicht überwinden. Obwohl wenn meine eigene Person keine direkte Verbindung zum Völkermord hatte, kam Ich zu der Schlussfolgerung, dass Ich mehr tun musste als nur um Vergebung zu bitten. Daher fasste Ich den Entschluss, das Eigentum welches Ich von meinen Vorvätern geerbt hatte, den rechtmäßigen assyrischen Eigentümern (richtiger an eine ihrer Organisationen welche sich ehrenamtlich der Anerkennung des Genozids widmet, dem Seyfo Center) zukommen zu lassen.
Diese Handlung tätigte Ich aus freiem Willen und auf der Basis meiner eigenen Gefühle. Ich bin hierzu weder von Individuen oder Organisationen beeinflusst worden, noch existieren wirtschaftliche, familiäre oder persönliche Motive für diese Entscheidung.
Der Völkermord von 1915 richtete sich gegen jene Nicht-Muslime, die während des Ersten Weltkriegs innerhalb der Grenzen des ehemaligen osmanischen Reiches lebten. Er ist über 85 Jahre hinweg von der heutigen türkischen Republik konsequent und ohne Rücksichtnahme verleugnet worden. Die Opfer dieses Völkermordes; Assyrer, Armenier sowie andere christliche Minoritäten; wurden einer von Angst und Depressionen geprägten Zukunft ausgesetzt. Das Land, auf dem sie mehrere Tausend Jahre gelebt hatten, sowie ihre lebendigen und materiellen Werte und Güter wurden konfisziert. Viele von ihnen wurden ins Exil gezwungen. Alles Eigentum wurde ihnen entwendet, Häuser und Kirchen wurden besetzt, viele wurden zwangsislamisiert. Die schrecklichen Facetten dieses Völkermordes werden in einer Vielzahl von Arbeiten und Büchern detailliert beschrieben, sie werden durch historische Dokumente belegt. Als Kurde möchte Ich mich Diskussionen und variierenden Ansichten hinsichtlich der historischen Entscheidungsträger nicht anschließen. Die Verantwortung für den Völkermord liegt unbestreitbar beim osmanischen Staatsapparat als höchster damaliger politischer Autorität, da die Vorgänge ihrer Natur nach eine organisierte politische Aktivität waren. Diese Tatsache befreit jedoch jene, welche sich für Durchführung des Mordens verantwortlich zeigten, nicht von ihrer Verantwortung oder Schuld. So sind auch die kurdischen Stämme, welche den Völkermord im Auftrag des Staates durchführten, nicht ohne Schuld und Verantwortung für ihre Handlungen. Im Falle dieses Völkermordes tragen jene, welche ihn durchführten, eben dieselbe Schuld für das Geschehene wie die Entscheidungsträger. Obwohl seitdem viele Jahrzehnte vergangen waren, würde mich weitergehendes Schweigen den gleichen Schuldgefühlen aussetzen wie offenes Verleugnen.
Mit dem Hintergrund dieser geschichtlichen Schuld konnte ich als ein Mensch mit tiefer humanistischer Überzeugung die Schuldgefühle nicht mehr ertragen. Ich kam zu der Entscheidung, dass es unsere moralische Verantwortung ist, die Entschuldigung an die Opfer, verbunden mit der Rückführung alles konfiszierten Eigentums, nicht weiter aufzuschieben. Mit einer historischen Schuld zu leben ohne dazu Stellung zu beziehen und stattdessen in Schweigen zu verweilen, ist, als identifiziere man sich mit dieser Schuld. Die gilt auch, wenn man selbst keine persönliche Verbindung zu ihr hat. Die Türkei verleugnet weiterhin den Völkermord von 1915 und meint stattdessen: ”Wir haben keinerlei Leichen im Keller und sind niemandem eine Bitte um Vergebung schuldig”. Ich dagegen bitte nicht nur um Entschuldigung, Ich übergebe den Assyrern ihren rechtmäßigen Besitz.
Mit meiner Haltung möchte ich der geschichtlichen Schuld, welche vor vielen Jahren entstanden ist, und seither verleugnet wurde, aufarbeiten und ihr Einhalt gebieten. Im Namen meiner Vorväter bitte Ich um Entschuldigung und Vergebung! Mit meiner Bitte um Entschuldigung hoffe Ich auf wirkliche Versöhnung mit den Opfern des Völkermordes. Ich bin ein Mensch! Ich möchte meine menschlichen Werte bewahren!
In diesem Brief wollte Ich die Beweggründe für mein Handeln sowohl der türkischen Regierung, als auch der internationalen Öffentlichkeit erläutern. Es lässt sich keine vergleichbare Geste der Versöhnung und Entschuldigung für den Völkermord in der heutigen Türkei finden. Die Zeit ist gekommen, Assyrer, Armenier und Griechen , welche viele Jahre zu Angst, Trauer und Verzweiflung verurteilt gewesen sind, um Entschuldigung zu bitten. Jeder Einzelne kann selbst um Entschuldigung bitten, ohne auf die offizielle staatliche Haltung in dieser Frage Rücksicht zu nehmen. Dies ist eine Voraussetzung um die beschriebene historische Schuld zu einem Ende zu bringen und endlich in Frieden leben zu können.
Mit aufrichtigem Respekt,
Behzat Bilek