Die christliche Bevölkerung des Tur Abdin ist in den vergangenen 30 Jahren auf eine kleine Zahl zusammengeschrumpft. Nur noch 3000 Christen sollen dort leben, wo einst eine Hochburg des Christentums in Mesopotamien war. Kurden, die auf der Seite des türkischen Staates gegen die kurdisch-nationale Befreiungsbewegung kämpfen, nutzen ihre Macht, um sich in diesem Krieg straflos das Eigentum der Christen in der Region anzueignen. Die ohnehin schwere Lage der Christen hat sich nach 1980 dramatisch verschlechtert und zu einer massiven Fluchtbewegung geführt. Viele Assyrer/Aramäer leben seitdem in Deutschland, Schweden und Holland. In einer Zeit, wo durch Krieg, Unterdrückung und Diskriminierung Millionen von Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, ist die Tragödie der Assyrer/Aramäer kaum zur Kenntnis genommen worden.
Die letzten Reste eines alten, christlichen Volkes mussten ihre Heimat verlassen und fanden sich in einer Welt wieder, die von ihrer Existenz kaum Kenntnis hatte. Die Geschichte der Assyrer/Aramäer und der Armenier weist viele Gemeinsamkeiten auf. Nachdem die Heimat dieser Völker unter türkisch-osmanische Herrschaft fiel, bestimmten immer mehr Unterdrückung und Verfolgung ihr Leben. Die Leiden dieser Völker erreichte während des 1. Weltkrieges, als die türkisch-nationalistische Regierung ihren mörderischen Plan zur Schaffung eines rein türkisch-muslimischen Staates umzusetzen begann, einen grausamen Höhepunkt: Genozid.
Ab 1980 wurde die europäische Öffentlichkeit und Politik plötzlich mit der Frage der Anerkennung des Genozids an den Armeniern konfrontiert. In dieser Zeit hat die armenische Diaspora durch ihre Aktivitäten erreichen können, dass die Welt davon erfuhr, dass in der Türkei einst Armenier lebten, die durch einen Genozid fast vollständig vernichtet wurden. Nachdem das Europäische Parlament im Juni 1987 die Türkei in einem Beschluss aufgefordert hatte, den Genozid an den Armeniern anzuerkennen, kam diese Forderung auch auf die Tagesordnung anderer nationaler Parlamente in Europa. Inzwischen hat selbst der Bundestag die verbrecherische Politik der türkischen Regierung verurteilt, die Mitschuld Deutschlands daran anerkannt und die Türkei aufgefordert, sich ihrer Geschichte zu stellen. Während in dieser Zeit der Genozid an den Armeniern wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und Politik gelang, blieb das Schicksal der Assyrer/Aramäer völlig unbeachtet.
Als Armenier haben wir einen langen, hartnäckigen Kampf gegen das Vergessen geführt. Wir wissen, dass es notwendig ist, ständig dafür zu sorgen, dass das Genozid-Verbrechen nicht in Vergessenheit gerät. Aus eigener Erfahrung wissen wir auch, wie bitter es ist, wenn die Welt nichts darüber weiß, was während des 1. Weltkrieges im Osmanischen Reich geschah. Die wichtigste, politische Aufgabe der armenischen Diaspora bildete die Anerkennung des Genozids. Dies wurde weitgehend erreicht, trotz des enormen Widerstandes der Türkei und der Kräfte, die ihre Leugnungspolitik unterstützt haben.
Es kann keinen Zweifel geben: Entsprechend der UN-Konvention vom 9. Dezember 1948 muss die Vernichtung der Assyrer/Aramäer als Genozid betrachtet werden. Es ist ein Genozid, der sogar noch mehr in Vergessenheit geraten ist, als der an den Armeniern.. Und es ist heute höchste Zeit, dass dieser Genozid, den die Assyrer/Aramäer in ihrer Sprache als „Seyfo“ bezeichnen, auf die politische Tagesordnung kommt und anerkannt wird. Gerade als Armenier wissen wir, was es bedeutet, wenn ein Genozid einfach vergessen wird. Es geht bei den Assyrer/Aramäern aber nicht nur darum, einen vergangenen Genozid anzuerkennen. Auch heute sind die Reste dieses Volkes in Mesopotamien bedroht. Die Zukunft der Christen im Norden des Irak ist völlig ungewiss. Viele haben in den vergangenen Jahren ihre historische Heimat verlassen, um dem zunehmenden Terror zu entfliehen. Die internationale Gemeinschaft unternimmt nichts für den Schutz der Assyrer/Aramäer in Mesopotamien. Sie bleiben als schwächste ethnisch-religiöse Gemeinschaft den Übergriffen ihrer Nachbarn wehrlos ausgeliefert.
Auf der Demonstration in Berlin wurde deutlich, dass die Assyrer/Aramäer vor allem darauf hoffen, dass kirchliche bzw. christliche Kreise sich für ihre Belange einsetzen und sie unterstützen. Sicher hängt dies auch damit zusammen, dass die Religion bis heute eine sehr große Bedeutung bei den Assyrern/Aramäern spielt. Die zwei großen westlichen Kirchen haben in den vergangenen Jahren ein Herz für die verfolgten Christen entdeckt und bekunden christliche Solidarität mit ihnen. Dies wurde in den Reden auf der Abschlusskundgebung deutlich. Doch wie ernst ist diese Solidarität mit den Christen des Orients? Was haben sie im 19. und 20. Jahrhundert getan, um sie vor Verfolgung und Genozid zu schützen? Was wird heute konkret getan, um die Existenz zu schützen und ihre Rechte zu verteidigen? Wenn man sich die Reden der europäischen Kirchenvertreter anhört, wird man nicht das Gefühl los, als ob sie wieder versuchen, diese verfolgten „Glaubensbrüder und Schwestern“ für ihre eigenen Interessen zu instrumentalisieren.
Wer auf der Demonstration in Berlin war, wird bemerkt haben, dass unter den über 15.000 Menschen kaum nicht mehr als 1% Deutsche waren. Es ist ein Sonntag, am Vormittag fanden in Berlins Kirchen Gottesdienste statt. Wurden die Gläubigen dazu aufgerufen, sich an der Demonstration zu beteiligen, um so ihre Solidarität mit Christen im Tur Abdin zu bekunden? Wenn die Pfarrer tatsächlich zur Teilnahme an der Demonstration für das bedrohte Mor Gabriel aufgerufen haben, dann war die Resonanz sehr gering. Vor 15.000 Assyrer/Aramäern auf die Bedeutung Mor Gabriels als Pilgerort für das Christentum auf der ganzen Welt hinzuweisen und von „christlichen Schwestern und Brüdern“ zu sprechen ist natürlich einfach und wird vielen Demonstranten geschmeichelt haben. Aber es geht eigentlich nicht darum eine „Pilgerstätte“ für die Christen auf der Welt zu retten, sondern um die Existenz der syrisch-orthodoxen Kirche, um das Überleben der Assyrer/Aramäer in ihrer historischen Heimat. Nichts verdeutlichte die mangelnde Unterstützung seitens der deutschen Christen mehr, als ihre fast völlige Abwesenheit auf der Demonstration am Sonntag in Berlin.
Mit wohlklingenden Sonntagsreden und verbalen Solidaritätsbekundungen werden die letzten Christen im Tur Abdin nicht gerettet. Sowohl die Öffentlichkeit , als auch Politik und Kirchen müssen sich nicht nur mit konkreten Forderungen, sondern auch mit Taten für den Schutz der Christen im Tur Abdin und Mesopotamien einsetzen – bevor es zu spät ist.
Toros Sarian